Wie der Krieg bis heute wirkt

Dach Weinhübel
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Wir denken, 1945 hätte der Krieg geendet. Das waren jedoch nur die Kriegshandlungen im Außen. Im Inneren der Menschen leben die Traumata weiter und sind von Großeltern auf deren Kinder, Enkel bis Urenkel gegeben worden. Ich will in einigen Episoden aus dem Freundeskreis erzählen, wie sich die Kriegsereignisse in den Familien bis heute festsetzen.

Episode 1 – Die Schreie der Frauen durch Weinhübel

Mai 1945, die Russen ziehen durch Görlitz. Die sogenannten „Befreier“. Sie befreien aber nichts, sondern sie schänden die Frauen. Eine perverse Kriegstechnik, die in meinen Augen noch überhaupt nicht aufgearbeitet ist.

Meine eigene Oma (zu dem Zeitpunkt 37) sitzt einen ganzen Tag mit den beiden Töchtern (16 und 4) auf dem Dach des Wohnhauses. Ihr Mann ist mit dem Sohn in der Wohnung geblieben, wissend, dass er sie nicht beschützen könnte. Schreie hallen durch Weinhübel von Frauen, an denen sich die Russen vergehen. Anhand der Schreie wissen die Bewohner, wo die Russen genau sind – und hören, wie sie näher kommen.

Oma und ihren Töchtern (meinen Tanten) passiert nichts. Das Thema wird aber totgeschwingen in der Familie. Ich musste es regelrecht erzwingen, dass mir jemand das Dach zeigt. Eine Mauer des Schweigens und der Scham versteckt oft die Wahrheit der Gräueltaten.
Der erste Schritt zur Heilung von Familienthemen ist sie offen auf den Tisch zu legen!

Episode 2 – Der Vater, der seine Töchter erschlug

Die massenhaften Vergewaltigungen der Russen geschehen nicht nur in Weinhübel. In Ludwigsdorf kennt der Heimatverein die Geschichte eines Einwohners, wo „der Vater die Töchter erschlagen hat aus Angst vor den Russen und sein Selbstmord hat nicht gleich geklappt. Alles schrecklich.“ Er versuchte sie zu schützen vor den Russen, in dem er sie vorher „erlösen“ wollte, um ihnen direkt zu folgen.
Welch Verzweiflung in den Menschen! Und welch Schock für die Nachbarn, ja das ganze Dorf!

Episode 3 – Vergewaltigte Gärtnerinnen des Friedhofs

Max Opitz hat Tagebuch geschrieben vom 8. Mai 1945 – 5. Juli 1945. Darin am 15. Mai verzeichnet: „Am gleichen Tage mußten auch auf dem Friedhof arbeitende Gartenfrauen Vergewaltigungen von herumziehenden Russen erdulden.“

„Erdulden“? Was für ein schlecht gewähltes Wort, wo Worte schlicht fehlen, um die massenhafte Schändung der Frauen in Görlitz nach dem Krieg zu beschreiben.

Wieviele wurden in dieser Zeit innerlich gebrochen? Wieviele lebten fortan schwer traumatisiert? Wieviele wählten in den nächsten Wochen, Monaten, Jahren selbst den Freitod? Wieviele waren für ihre Kinder nicht mehr ansprechbar? Und wieviele Kinder entstanden aus diesen Vergewaltigungen, die ungeliebt oder ins Heim gegeben in ein von vorn herein verpfuschtes Leben starteten? Diese Fragen sind nicht nur rhetorisch, sondern ganz real für unser heutiges Leben. Ein Beispiel folgt hier:

Epidode 4 – Das verpfuschte Leben eines solchen Kindes

Ich kenne eine wunderbare Familie, alles tolle Leute. Jedoch: Der älteste Sohn war ein Kind einer solchen Vergewaltigung eines Russen. Die Mutter bekam ihn dennoch, zog ihn auf, behandelte ihn gleich wie alle weiteren Geschwister. Das war vielleicht schon mehr, wie viele andere Frauen im Stande gewesen wären zu leisten.

Der Junge wuchs heran, verfiel bald dem Alkohol und vergewaltigte selbst. Sein eigener Sohn entstand brutal und nicht einvernehmlich mit seiner Partnerin. Da er sich zusätzlich begann an den eigenen Töchtern zu vergreifen, kam er ins Gefängnis und starb frühzeitig.

Foto: Pixabay Jarmoluk

Womit wir im Heute ankommen: Seine Töchter kämpfen bis heute mit den Geschehnissen. Alkoholprobleme spielen dabei erneut eine Rolle. Alle anderen Kinder der 1945 vergewaltigten Mutter, die mit ihrem eigenen Mann entstanden, sowie deren Nachkommen sind wunderbar und liebenswert. Sind es also die Gene des russischen Vergewaltigers?

Episode 5 – Das Schweigen und die Irrtürmer in den Familien

Der Opa einer Freundin starb im Krieg. Verschiedene Versionen waberten bis in die Gegenwart in der Familie:
1. Er soll als Pilot bei einem Flugzeugabsturz im Krieg geblieben sein. – Version der Cousine der Mutter.
2. Er soll ins „Gelbe Elend“ nach Bautzen verbracht worden sein und dort gestorben sein. – Version der Mutter.
3. Er starb verschleppt ins Stalag in Torgau. – Die Wahrheit bei ihren Nachforschungen!

Die Wahrheit kam erst mit Briefen, die die Oma bis zu ihrem Tod heimlich aufbewahrt hatte, und der Recherche-Hilfe des Deutsch-Rotes-Kreuz schwarz-auf-weiß ans Licht – zur großen Überraschung der meisten in der Familie. Tatsächlich war der Opa bei einem Heimatbesuch von russischen Soldaten abgefangen worden, als er sich zum Zahnarzt begeben wollte. Da er als Soldat in Russland war, warf man ihm Gräueltaten vor. Dort war er zur Aufsicht der russischen Bauern abgestellt und dabei sehr human und gütig. Er lehrte sie viel über Landwirtschaft und misshandelte keinen Einzigen. Die Oma setzte alle Hebel in Bewegung, ihren Mann aus der Gefangenschaft zu befreien. Sie besorgte sogar Aussagen von den russischen Bauern und Lazarettärzten, um seine Unschuld zu beweisen. Vergeblich.

Die Oma schwieg nach der Ermordung ihres Mannes für immer zu dem Thema.
Die Tochter und Cousine entwickelten die vagen Versionen der Geschehnisse.
Meine Freundin (Enkelin vom Opa) nahm es auf sich, Licht ins Dunkle zu bringen. Niemand kann je Familienthemen aufarbeiten, wenn sie unter einer Mauer des Schweigens oder Irrtümern begraben sind.

Sie sagt heute:
„Es ist das Thema der Epigenetik. Alles was da abgespeichert ist von unseren Vorfahren, was da noch nicht verarbeitet wurde, tragen wir weiter mit. Und oftmals haben wir das Gefühl: „Ich weiß nicht, irgendwas haut hier überhaupt nicht hin. Ich fühl mich gar nicht wohl und ich kanns überhaupt nicht mit mir in Zusammenhang bringen.“ Das ist dann halt der Moment, wo diese ungelösten Sachen unserer Ahnenlinie in uns stecken. In unseren Zellen, in unserem Nervensystem, in unserer DNS – und angesehen werden wollen.“

Episode 6 – Das Haus in der Altstadt

Eine Freundin sagte zu mir im Zuge dieser Themenwoche:
„Ich würde heute vielleicht auch in der Altstadt wohnen, wenn unser Haus hinterm Rathaus noch stehen würde.“ Ich sagte, dass die Häuserzeile Jüdenstraße doch erst nach 1945 abgerissen wurde. Die Freundin erklärte: „Das Eckhaus Rosenstraße/Rathausstraße (heute Judenstraße) wurde getroffen. Das machte die gesamte Häuserzeile instabil und stückweise wurden Häuser von der Rosenstraße Richtung Nikolaiturm abgerissen. Unseres 1955, da es erhebliche Risse bekam.“

Jetzt waren wir in der Epigenetik. Ich sagte: „Verrückt, da warst du nicht mal geboren.“ Und die Freundin antwortete: „Mutti hat als Baby und Kleinkind noch drin gewohnt. Ein Trauma für Mutti und ihre Mutti. Heimat verloren!“
Nur eine Geschichte, die meine Freundin geschluckt hatte, weil Mutti und Oma immer vom alten Haus in der Jüdenstraße erzählten? Oder doch ein tief sitzender Verlust, der bis in die DNA der weiblichen Ahnenlinie vorgedrungen ist?

Heute steht dort ein Parkhaus, was sich für nahezu alle Görlitzer „falsch“ anfühlt an dieser Stelle (auch wenn es äußert nützlich ist an dieser Stelle). Aber Gefühl und Logik sind eben zweierlei.
Ebenso „falsch“ fühlt sich das CityCenter an im Herzen der Innenstadt. Ein Fehler im gefühlten Stadtkörper und in der DNA der Görlitzer. Das erklärt vielleicht, warum bestimmte Baumaßnahmen immer wieder zu heftigen Reaktionen in der Bevölkerung führen. Wir sind unsere Stadt.

Episode 7 – Die schweren Darmprobleme

Der Krieg ist vorbei, der Vater der Familie hat zum Glück überlebt. Es gibt 3 kleine Söhne. Im Juni 1945 wird ein Pferd geschlachtet, es soll Pferdefleisch geben. Das Fleisch liegt roh als Gehacktes da und soll den nächten Tag gebraten werden, damit sich keiner was holt. Der Vater weiß das nicht und ist das rohe Gehackte. Er stirbt jämmerlich daran. Der Ernährer der Familie ist weg. Die Familie steht mit einem großen Bauernhof plötzlich alleine da. Es ist schwer traumatisch für alle.

Foto: Pixabay Webandi

Die Söhne entwickeln im Laufe ihres Lebens ebenfalls Darmprobleme, einer muss sogar operiert werden. Schwerer noch erwischt es die Enkelinnen des 1945 Gestorbenen – womit wir wieder in der Jetzt-Zeit sind. Sie haben ihren Opa nie kennengelernt! Beide kämpfen intensiv und über Jahre mit Darmproblemen. Die eine Anfang 20, die andere Ende 50. Und nochmal: Es ging um verdorbenes Fleisch, nicht um anatomische Dispositionen.

Generationenlehre

Ein anderer Ansatz das Ganze zu betrachten, als mit der Epigenetik, ist der Ansatz über die Generationen.

Seit den 90ern existiert der Begriff der Kriegskinder. Hier hinein zählt man die Geburtenjahrgänge von 1930 bis 1945. Unzweifelhaft hat eine Kindheit in einem Kriegszustand Auswirkungen. Einigkeit besteht inzwischen darin, dass die „Folgen der Kriegskindheit über viele Jahrzehnte spürbar bleiben, zum Teil mit zunehmendem Alter wieder anwachsen und oft „stumm“ an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden.“ Sabine Bode hat dazu ein Buch geschrieben, was es auch als Hörbuch gibt. Unsere Stadtbibliothek hat es da. Bzw. kann man es hier bestellen.

Den Kriegskindern folgen die Kriegsenkel, 1960 und 1975 oder auch Generation X genannt. Zweitere fasst man 1965 bis 1980. Auch hier hat unsere Stadtbibliothek das Hörbuch von Sabine Bode da. Hier ist der Bestelllink.

Es folgen Generartion Y bzw. die Millennials, Anfang der 80er bis Ende der 90er. Mit all ihren Marotten.
Dann kommt Generation Z bzw. Zoomer genannt. Das sind die Jahrgänge von 1995 bis 2010.
Generation Alpha werden die Kinder seit 2010 genannt.

Wir „Alten“ schütteln oft mit dem Kopf, wenn es um diese Generationen geht. Aber wären sie so, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte? Niemand von uns kommt aus dem luftlehren Raum. Wir alle sind, weil die Altvorderen waren. In jeder Familie hat irgendein Vorfahre den Krieg erlebt: Als Opfer, als Täter, in Angst, in Armut, auf der Flucht, geschändet, als Helfer und mit indirekter Schuld etc.

Es kann sich nur auflösen, wenn wir unsere Hausaufgaben endlich machen…

Hausaufgaben in der Familie machen

Wären wir alle heute so, wie wir sind, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte?
Und: Wieviel Krieg steckt heute noch in uns allen?

Die Antworten auf diese Fragen kann jeder nur selbst heraus finden, indem er sich den Geschichten seiner eigenen Familie mutig stellt, notfalls auch gegen das Gutheißen der Verwandschaft und beginnt die Themen zu bearbeiten. Man sagt, jeder von uns ist mit den Themen der letzten 7 Generationen seines Stammbaumes konfrontiert. Und alles, was wir nicht auflösen, bleibt übrig für unsere Kinder und Kindeskinder. Wir tun also gut daran, wenn jeder seinen Teil der Hausaufgaben in der Familie endlich erledigt.

So lange mir jeden Tag Menschen begegnen, die hassen, mobben, diskriminieren, falsch und verlogen sind, die hetzend feige durch Kommentarspalten ziehen oder im realen Leben Arschloch spielen, weiß ich, dass noch unendlich viel unverarbeitet in den Familien liegt. Wer andere Menschen zerstört, trägt Krieg in sich.

Statt auf andere loszugehen, wäre es viel wichtiger, die Negativspiralen in der Gefühlswelt zu stoppen und anzusehen, woher es kommt. Und dann bewusst diese Informationsfelder zu verlassen. Erst die Menschen, die (wieder) zur Liebe, zum Mitgefühl, zu Respekt, Empathie und Wertschätzung fähig sind, haben einen Teil ihrer Hausaufgaben geschafft. Ich drücke für diesen schweren Weg jedem meiner Leser von Herzen die Daumen.

Eure wertschätzenden Kommentare

„Deine letzten Zeilen, im Beitrag auf deiner Homepage, sind sehr schön geschrieben. Und sollten wirklich einen jeden Leser dazu inspirieren seine eigenen Hausaufgaben zu erledigen. Danke dafür.“
„Sehr guter Beitrag… Ich selbst gehe gerade den schweren Weg die Transgenerationalen Traumen meiner Familie Stück für Stück aufzulösen…
Heute Abend besuchen wir eine Lesung in der es unter anderem um die Vertreibung meiner Familie aus Ungarn geht.
Therapeutisch arbeite ich oft mit meinen Patienten an diesen Themen… viele wissen noch nicht viel mit dem Thema transgenerationales Trauma anzufangen, tragen dieses aber als schwere Last mit sich herum… unaufgelöst geht es direkt weiter an die nächste Generation…auch auf kollektiver Ebene.“
„Ein anthroposophischer Arzt, der meine Kinder behandelte, sprach immer vom roten Band in der Familiengeschichte, mit dem man Krankheiten erklären kann. Man müsste durch Aufarbeitung den Faden abschneiden….ein merkwürdiges Bild. Wie kann ich aufarbeiten, was mir nicht so ganz bekannt ist….“
„Das Thema ist sooo immens wichtig, danke, daß du es aufgreifst und unter die Leute bringst. Auch ich bin seit Jahren am aufarbeiten und man glaubt nicht, wie tief die Themen reichen.“


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