Kriegsende am 8. Mai 1945 in Görlitz

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Es gibt genau 16 Ortschaften, die mit Kriegsende 1945 an der Oder-Neiße-Linie getrennt wurden. An der sächsischen Neiße sind dies Zittau/Großporitsch (Porajów), Hirschfelde/Lehde (Trzciniec Dolny), Marienthal/Rusdorf (Posada), Görlitz/Moys (Zgorzelec), Klein Priebus/Buchwalde (Bucze), Bad Muskau/Lugknitz (Łęknica). Weitere Orte verloren ihre Brücken zum Nachbarort für immer (Zodel ~ Sercha). Hier endete nicht nur ein sechs jähriger Krieg (1939 – 1945). Hier wirkt sich eine geopolitische Entscheidung bis in unsere heutige Zeit aus, für die die Menschen vor Ort nichts können und dennoch damit umgehen müssen.

Blieb die Stadt Görlitz wirklich unzerstört?

8. Mai 1945, Kriegsende in Europa. Görlitz hatte Glück. Das heißt aber nicht, das gar nichts zerstört wurde. Bitte nie wieder! Hier die entscheidene Passage aus “Görlitz im antifaschistischen-demokratischen Neuaufbau”, Schriftenreihe der Görlitzer Sammlungen, Heft 17, Seite 2. Gibts in der Bibo und vielleicht bei Oma im Bücherschrank.

Das Gerücht hält sich hartnäckig, Görlitz hätte keine Kriegsschäden gehabt! Brücken fehlen bis heute, Häuser fehlen bis heute, im Krieg blieben unzählige Männer, die Lazarette lagen voll, auf jedem Friedhof gibt es Kriegsgräber-Anlagen mit den hier Gefallenen. Die Stadt war kurzzeitig evakuiert, d.h. fast leer. Dazu die Teilung von Stadt und Landkreis. Und dann noch das Drama danach mit 4 Mio Schlesiern aus den Ostgebieten…

Wir haben lediglich Häuser wieder historisierend aufgebaut, uns an manche Baulücke gewöhnt und den Rest totgeschwiegen, vergessen oder langsam in die Aufarbeitung gebracht.

Sichtbarer Beschuss – bis heute

Wer ein paar Einschusslöcher aus den letzten Kriegstagen sehen will im angeblich unzerstörten Görlitz, der kann sich die Friedhofsverwaltung mal genauer ansehen. Anett hat sich mit dem folgenden Foto gemeldet mit der Frage, wieso die Ostseite des Gebäudes der Friedhofsverwaltung solche Löcher in der Fassade hat?

Die Frage hab ich an die Friedhofschefin weitergeleitet und heute morgen war die Antwort da: “Mai 1945. Hier wurde geschossen. Am Demiani-Stein haben wir an der Seite die Löcher auch gelassen. Nur vorn sind sie mit einer Spende mal beseitigt worden.”

78 Jahre alte Spuren. Das macht nachdenklich über den Irrsinn in der Welt…😞🤔

Die Teilung der Stadt

Görlitz wird geteilt und verliert den Wohnraum von 8.800 Einwohnern, Industrieanlagen, städtische Anlagen wie seine Gasversorgung, Schulen, Parks und Gedenkorte. Einen Teil seines Straßenbahnnetzes. Ausflugsziele und Gastronomie. 7 Brücken und einen Teil der 873 jährigen Stadtgeschichte. Dazu jede Menge ausgelagerte Kulturgüter. In einem Kartenauschnitt von 1938 habe ich Euch die Stadtteile im Osten farbig markiert:

Grün – Altstadtbauten
Rot – Gartenstadt mit Einfamilienhäusern
Blau – Gründerzeitbauten mit Parkanlagen um die Ruhmeshalle
Gelb – Militärbauten

All das verschwindet aus dem Bewusstsein der Einwohner über 3 Generationen. Die 4. Generation sind die nun 20 Jährigen. Und wer von ihnen ist heute “drüben” ortskundig?
Die Bezugsquelle der Karte habe ich hier.
Alle Beiträge, die in den letzten 9 Jahren zur Oststadt entstanden sind, findet ihr hier.

Die Teilung des Landkreis Görlitz

Görlitz verliert nicht nur eine Stadthäfte. Görlitz verliert zwei Drittel (den größeren Teil!) seinen Landkreises. Historisch sind die Dörfer und Städte im Umland fest mit der Stadtgeschichte von Görlitz verknüpft durch alte Besitzungen (Stichwort Emmrich, Frenzel, “Ratsherrenland”). Auch die Görlitzer Heide, der Stadtwald, mag manchen noch ein Begriff sein. Görlitz verliehrt 24 Dörfer und Städte mit Wohnraum von 21.299 Einwohnern. Die Felder sind bestellt im Mai 1945, die Tiere haben Junge, in den Teichen schwimmen die Weihnachtskarpfen – und über Nacht heißt es “RAUS!” Seitdem, seit 78 Jahren, bewegen sich die Görlitzer mehrheitlich im Halbkreis.

Hier eine Auflistung der verlorenen Görlitzer Dörfer.
Und hier Bilder und Geschichten aus diesen Dörfern.
Karte: Landkreis Görlitz bis 1945. Bezugsquelle: Schlesische Schatztruhe, Brüderstraße.

Über 7 Brücken kannst du nicht mehr gehn

Am letzten Kriegstag, am 7.5.1945, zerstört die Wehrmacht auf ihrem Rückzug alle sieben Brücken der Stadt, um die Verfolger abzuhängen. Drei dieser Brücken sind erst wieder zurückgekehrt. Ein 78 Jahre alter Kriegsschaden! Posottendorf wird ohne seine Brücke aus Leschwitz (Weinhübel) fast aufgegeben. Es war die wichtigste Zufahrt. Die Neißeinsel wird vollständig aufgegeben. Das Neißetal ist noch immer im Dornröschenschlaf. Görlitz auf Ansichtskarten 🗃 hat eine gute Auflistung erarbeitet, aus der ich hier zitiere:

1. Die Fußgängerbrücke am Nikolaigraben, sie wurde 1905 gebaut weil man eine Gasrohrüberführung brauchte. Historische Fotos.
2. Die Altstadtbrücke. Diese Brücke ist die älteste und war die Lebensader der Stadt. Die Brücke war ursprünglich aus Holz, da sie immer wieder durch Hochwasser stark beschädigt wurde, ersetzte man sie 1907 durch eine moderne Stahlbogenbrücke ersetzt. Historische Fotos.
3. Die Fußgängerbrücke am Lindenweg. Bevor sie errichtet wurde verband an dieser eine Fähre beide Ufer. Historische Fotos.
4. Die Stadtbrücke, sie wurde 1875 fertiggestellt und trug den Namen Reichenberger Brücke. Zwischen 1897 und 1945 überquerte auch die Straßenbahn die Brücke. Historische Fotos.
5. Der Neißeviadukt, er wurde 1847 mit der Eisenbahnstrecke zwischen Görlitz und Kohlfurt eröffnet. Er ist 475 m lang und gehört zu den größten und ältesten Eisenbahnbrücken in Deutschland. Historische Fotos.
6. Der eiserne Neißesteg, er wurde 1893 errichtet, er war eine Fußgängerbrücke. Am westlichen Ufer führten einige Stufen vom Inselweg hinauf zum Brückenkopf. Die Brücke führte über den Inselweg und die Neiße bis auf das östliche Ufer. In etwa auf der Mitte der Brücke führte eine stählerne Treppe auf die große Neißeinsel. Auch auf der polnischen Seite ist das Widerlager mit dem Treppenunterbau noch gut erkennbar. Historische Fotos.
Daran befestigt war ein Abstieg auf die Neißeinsel sowie eine zweite hölzerne Brücke ab Inselweg auf die Neißeinsel.
7. Die Brücke zwischen Posottendorf-Leschwitz (Weinhübel). Sie wurde erstmals 1367 erwähnt. Die Stahlbrücke auf der Karte wurde aber erst 1883 errichtet. Sie wurde ebenfalls am 7. Mai 1945 gesprengt. Historische Fotos.

Das zerstörte Ausflugsziel Neißetal in Görlitz

Ein XXL Kriegsschaden ist das Neißetal bei Görlitz. Zuvor war es das beliebteste Ausflugsziel der Görlitzer mit “Deutschlands schönstem Flussbad”, mit Gastronomie, Kahnverleih, militärischer Schwimmanstalt, Anlage des Schützenvereins, ausgedehntem Wegenetz, Aussichtspunkten und drei Brücken. Ich hab dazu 2017 ein Video gemacht: Siehe Youtube https://www.youtube.com/watch?v=DGAg7Q3gBnA oder hier:

Mit dem 8.5.1945 wird es zur Staatsgrenze. “Betreten Verboten”, es gibt einen Schießbefehl bei Zuwiederhandlung. Und dann wird das Neißetal auf Jahrzehnte zur Sperrzone, da das Militär diese Grenze nun bewacht.

Zgorzelec hat 2019 bereits einen Teil der Uferpartie ab der Ruhmeshalle saniert. Eine Fotoserie habe ich hier.
Görlitz hat das 2024 vor, (79 Jahre nach Kriegsende!) wenn es mit den Fördergeldern klappt.
Hierzu noch mein Beitrag über “Deutschlands schönstem Flussbad“.

Buchtipps

Ich bin die 3. Generation nach 1945, der man nie etwas gezeigt oder erklärt hat zu Zgorzelec und dem östlichen Umland. Ich habe mir das alles selbstständig und über viele Jahre erarbeitet. Wer hinein gehen will in die Thematik und in dieses unendliche Tränental, dem kann ich folgende Bücher aus meiner privaten Bibliothek empfehlen:

Kriegsende, Kriegsschäden, Lebenssituation

➡️ “Görlitz unterm Hakenkreuz”, Schriftenreihe der Görlitzer Sammlungen, Heft 18. Ganz viele Fotos. (gibts in der Bibo, antiquarisch oder hat Oma im Bücherschrank!)
➡️ “Görlitz im antifaschistischen-demokratischen Neuaufbau”, Schriftenreihe der Görlitzer Sammlungen, Heft 17. Ganz viele Fotos. (gibts in der Bibo, antiquarisch oder hat Oma im Bücherschrank! Manchmal auch online hier.)
➡️ “Görlitz 1945 – 1946” von Hans Joachim Überschaer mit vielen Fotos der zerstörten Häuser und Zeitgeschehen. Ganz viele Fotos. (Antiquarisch suchen!)
➡️ “Görlitzer Tagebuch: Chronik einer Vertreibung 1945/1946” von Franz Scholz (nicht abgebildet!!! Gibts in der Bibo)
➡️ “Hungersnot und Kohlenklau” von Marlies Grützmacher, Infos seperat hier.
➡️ “Ortsnamenverzeichnis” ALLER verlorenen Dörfer und Städte östlich von Oder und Neiße.

Bücher und Karten zur Spurensuche nach 1945

➡️ “In den Häusern der Anderen”, von Karolina Kuszyk mit Erlebnisberichten der polnischen Siedler in den deutschen Häusern nach 1945 in Westpolen. (Von 2022, gibt es überall im Handel, online hier)
➡️ “Jenseits der Neiße”, von Hans Schulz (er lebt noch!). Beschreibung aller Dörfer des alten Görlitzer Landkreises (gibt es antiquarisch oder hat Oma im Bücherschrank!)
➡️ Karte “Görlitz 1938” mit der Oststadt.
➡️ “Schlösser der polnischen Oberlausitz” von Lars Arne Dannenberg und Matthias Donath (gibts im SZ Treffpunkt als Restposten)
➡️ “Karte Landkreis Görlitz bis 1945”, gibts in der Schlesischen Schatztruhe, Brüderstraße.

Görlitz heute

Bei alledem ist es mir unverständlich, wie Zeitungsredakteure, Stadträte, lokale Politiker, ganze Partein und viele viele Bürger ab 2022 nach Waffenlieferungen für ein Kriegsgebiet rufen konnten.
Bild: Stadtrat Mike Thomas fordert Waffenlieferung, SZ vom 14.1.2023:

Haben wir in einer geteilten Stadt, mit klaffenden Wunden seit 78 Jahren, mit gigantischem Verlust an Geschichte, Bausubstanz, Flurstücken, Industrie, Dörfern und Städten nicht begriffen, was Krieg ist? Und wie lange es dauert, Krieg zu befrieden? Wir sind in der 4. Generation danach, die Wunden seuchen und triefen noch immer unter dem Versuch so zu tun, als sei alles in bester Ordnung…

Wenn wir schon nicht lesen, nicht in Museen gehen, nicht an Gedenkveranstaltungen teilnehmen, nicht über den Grenzfluss gehen, nicht sehen wollen, nichts fühlen, dann könnten wir doch wenigstens einander zuhören. Wenigstens der eigenen Familie!

Mein Ur-Opa starb in den Nachkriegswirren im Juni 1945. Die Familie wusste lange nicht mal genau, wo und wann, so chaotisch und unklar war die Lage in Görlitz. Ich hab das mit Ahnenforschung aufgedeckt. Als die Groß-Tante heiratete 1945, kamen fast alle zum Fest, denn es gab das erste Mal mal wieder richtig was zu essen. (Die Groß-Tante hatte eine Gärtnerei in Weinhübel). Wir haben heute keine Ahnung mehr von echtem Hunger.

Als die Russen kamen, saß meine Oma mit den Töchtern 24 Stunden auf dem Dach ihres Wohnhauses und versteckte sich dort. Durch ganz Weinhübel hörte man die Schreie der Frauen, die von den “Befreiern” vergewaltigt wurden. Viele dieser Frauen nahmen sich danach das Leben. Manch Kind wurde aus diesen Vergewaltigungen geboren. Nicht nur in Görlitz, in ganz Schlesien. Viele blieben ungeliebt. Ich habe eine solche Familie kennengelernt. Das Kind wurde später Alkoholiker, selbst Vergewaltiger, leider sogar Kinderschänder. Ein Schatten, den die gesamte Familie bis heute nicht im Stande ist abzuschütteln, mit “Problemen” bis in ihre 2. – 4. Generation danach. Das ist alles 78 Jahre her!

Und wir schreien 2022/2023 nach Krieg? Nach Waffenlieferungen? Nach Vertreibung? Nach Grenzen Neuregelung in Europa? Und schaffen es in einer Stadt wie Görlitz nicht zu fühlen, was das für die nächsten knapp 100 Jahre bedeuten wird?

Der Krieg von 1939 – 45 steckt noch in jedem Einzelnen, der nach Waffen ruft und der Gewalt fordert.
Geht und macht eure inneren seelischen Hausaufgaben. Görlitz ist der perfekte Ort dafür, denn die Nachwirkungen von Krieg sind allgegenwärtig in unserer geteilten Stadt, bis tief hinein in die Familien.

Kann die Görlitzer Wunde überhaupt heilen?

Geopolitisch wird es niemand rückgängig machen. Die Zeit, dass wir brüllend, kämpfend, Blut vergießend durch Europa stürmen und (zurück)erobern, ist hoffentlich auch vorbei. Also wie kann es gehen?

Die Grenzen sind offen: Jeder kann jederzeit das Umland in 360 Grad erkunden.
Erste Schilder für Touristen und Radfahrer sind zweisprachig da.
Museen arbeiten deutsch-polnisch zusammen und widmen sich gemeinsam der EINEN Geschichte.
Es gibt Stadtführungen durch beide Hälften der Stadt.
Genügend Bücher setzen sich mit der Lokalgeschichte beidseits der Neiße auseinander.
Viele Kulturveranstaltungen erfordern keine Sprachkenntnisse, wie Musik, Tanz, Stadtfeste mit Händlern und Gastronomie.
Mit Sprach-Apps kann man sich alles lesbar machen im Ausland.
Beiträge im Facebook kann man sich automatisch übersetzen lassen.
Viele Homepages im Grenzgebiet sind zweisprachig angelegt.
Der schönste Antrieb sind immernoch Liebe und Freundschaft – zu den Menschen vor Ort, die einen mitnehmen und tolle Orte zeigen.

All das ist möglicherweise der Weg zur Befriedung der alten Kriegswunde.
Genau genommen ist alles da, die Grenzen offen und alle Möglichkeiten vorhanden.


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