Görlitz hat in den 1840er Jahren die Enge der Altstadt verlassen und seine Stadtmauern abgerissen. Demiani hat visionäre Pläne für eine 100.000 Einwohnerstadt vorgelegt. 1847 eröffnet der Bahnhof Görlitz. Im selben Jahr wurde der Viadukt fertig gestellt. Die Stadt entwickelt sich nun von Altstadt zum Bahnhof und weiter. Doch es kommt völlig anders, wie zunächst geplant…
Was wäre gewesen wenn…
… das alles so gebaut worden wäre, wie es Demiani (und andere) gedacht hatten? Wir würden heute in einem völlig anderen Görlitz leben. Wäre es schöner? Harmonischer? Der Verkehrsknoten erträglicher? Diese Fragen beschäftigen mich, seit ich über eine Karte von 1867 gestolpert bin. Ich will sie mir gern mit Euch im Detail anschauen.
Brautwiesentunnel und die dortigen Südstadtstraßen
Kommt man heute vom Brautwiesenplatz und fährt dort durchs Tunnel (Brautwiesentunnel), gelangt man auf die Lutherstraße (B99). Diese kreuzt im weiteren Verlauf die Melanchthonstraße. Seitlich gibt es noch den Fußweg zur Sattigstraße. Mehr ist dort nicht, weil Siemens das gesamte Areal einnimmt. Die Stadt heute sieht so aus:
Gedacht war das ganz anders 1867!
Vom Brautwiesentunnel sollten die straßen Sternförmig abgehen. Die Lutherstraße ist dabei Nr 19. Nr 21 ist die Sattigstraße. Nr 20 ist die Melanchthonstraße. Und beim großen „E.“ steht heut der Wasserturm. Zu ihm sollte es übrigens eine Verbindung von der Bahnhofstraße geben.
Alles andere, also Nr 22, 25, 26 und der Ring der 23, wurde so nie gebaut. Auch der große Platz“ J.“ direkt am Tunnel fehlt.
Brautwiesenplatz
Wir blicken auf den Brautwiesenplatz, den vermutlich ersten Kreisverkehr der Welt. Das Problem: 1867 war er noch gar nicht erfunden. Erst 1899 wurde er fertig gestellt. Vergleiche hier „Erster Kreisverkehr der Welt„.
Gedacht war das also erstmal anders 1867!
Der Gedanke war, eine Kreuzungssituation zu schaffen. Wir sehen im Osten die Krölstraße bis zur Leipziger Straße. Der obere Teil Krölstraße zur Bahnhofstraße ist noch nicht bebaut. Die Löbauer Straße ist 1867 nur eine Idee (Nr 4). Ebenso die Bahnhofstraße (Nr 5). Nr 3 wird mal die Landeskronstraße. Nr 6 die Cottbuser Straße. Nr 7 leicht versetzt zu heute die Spremberger Straße. Und die Verlängerung von Nr 5 nach Westen wird die Brautwiesenstraße. Blos gut, dass noch jemand die rettende Idee hatte, dass das auch im Kreis gehen könnte…
Ein Freund hat eine Straßenkarte von 1892 und da ist die Kreuzung Brautwiesenplatz schon rund und nennt sich Brautwiese.
Die Flüsse der Innenstadt – Teil 1
1867 waren sie alle noch da: Die Flüsse von Görlitz. Im Laufe der Zeit wurden sie alle in Schächte und Rohrleitungen gezwungen. 2024 sind wir vom Bewusstsein soweit, dass wir „grüne Lungen“ in einer Stadt ganz charmant finden und Radiästhesisten die Hände überm Kopf zusammen schlagen, denn über „Störzonen“ schläft man nicht. Die Innenstadt hat heute im Karree Gartenstraße – Blumenstraße – Emmi – Sohrstraße – Tivoli keinen oberirdischen Fluss.
1867 waren da sehr wohl 2 größere Flüsse und ein Teich beim Spielplatz Kahlbaumallee gegenüber der Emmi, mit einem Auslauf zur Neiße. Die Konsulstraße (links) heißt noch Kohlstraße. Die Moltke-Straße ist noch die Sommerstraße. Die Emmi ist noch namenlos. Die Sohrstraße noch nicht erfunden.
In der Störzone der Flüsse sind heute Häuser auf der Moltkestraße, der Sohrstraße und der unteren Blumenstraße. Auch mindestens eine Villa Moltkestraße gegenüber der Gartenstraße und Häuser im Mühlweg hin zur Blumenstraße.
Spannende Kommentare
„Und nicht immer konnte man sie auf Dauer ableiten. Siehe Ponte! Strasseneinbruch Hilgerstr. Nàhe Waggonbau, im Werk 1, in den Unterkellerungen der Werkshallen waren ständige Wassereinbrüche, Rinnsale zu verzeichnen.“
„Das ist nicht nur in Görlitz so, ich war nach einer längerer Zeit wieder mal im Sauerland. Da würde in der Stadt auch ein betonierter Platz entfernt und darunter der Fluß frei gelegt der jetzt ca. 2,5 m tief durch das Städtchen fließt. „
„Ach, deswegen konnte ich nicht schlafen, als ich zwei Jahre lang unten in der Blumenstraße wohnte… Danke für die interessanten Infos. „
„Wir wohnten Ende der 80er Jahre i in der Sohrstr. und hatten im Keller eine Wasserpumpe.“
„Aus dem Grund gibt es wohl zumindest in einem Hinterhof auf der Blumenstraße Bärlauch – und haben wohl einige Häuser auch Probleme mit Feuchtigkeit in den Kellerräumen.“
Die Ponte und der Ponteteich
Mit dem nächsten Kartenausschnitt sind wir zwischen Kummerau und Gewerbegebiet hinter der Bahnstrecke Görlitz-Berlin. Die Kummerau ist ganz rechts im Bild. Auf der Karte von 2024 erkennen wir schön die Heilige Grabstraße und die Zeppelinstraße (B99). Viel Platz nehmen das Klinikum und der Waggonbau ein. Umrahmt von Gartensparten. Ein Eckchen gestaltet noch die Parsevalstraße.
1867 war da nur die Kummerau, die Heilige-Grab-Straße als „Straße nach Girbigsdorf und Königshain“. Dann eine kühne Idee eines Straßennetzes, von dem tatsächlich nur die Zeppelinstraße umgesetzt wurde. Und dann der Beginn der Ponte (Fluss) irgendwo im heutigen Gewerbegebiet und ein Ponte-Teich. Die Ponte schlängelt sich offenbar genau am Waggonbau entlang. Der Teich muss zwischen Parsevalstraße und Waggonbau liegen. (Waggonbau = Bombardier = Alstom = ???). Und für die Laubenpieper noch spannend: Mitten in der Sparte „Kummerau“ war ein Steinbruch.
Vom Ponteteich zum Pulverteich
Wir verfolgen den Fluss Ponte weiter. In der Mitte des Bildausschnittes haben wir die heutige Jahnsporthalle. Links geht es bis zum Waggonbau, wo der Ponte Teich mal war. Rechts bis zum Jesusbäcker am Nikolaiturm. So sehr wir auch suchen auf Christoph-Lüders-Straße, Pontestraße, bei Aldi, entlang der Alten Gasanstalt bis zum Jesusbäcker – wir sehen keinen Fluss.
Ganz anders 1867.
Die Ponte dominiert diesen Bereich der Stadt. In der Gegend, wo heute die Zeppelinkreuzung ist, vereint sie sich mit dem „Siebenbörner“ und streift dann auf der Christopf-Lüders-Straße die Häuser gegenüber LIDL, geht unterm Waggonbau entlang, wo nun REWE einziehen will, schwabbt einmal kurz auf die andere Straßenseite bei der Kummerau. Dann gehts direkt unter dem heutigen Polizeigebäude durch. Nun weiter unterm Burjan-Platz durch (die Pontestraße ist an dieser Stelle noch nicht erfunden). Hier nimmt die Ponte nun die gesamte Straßenseite der Pontestraße ein und bildet unter Aldi und Steinmetz den Pulverteich. Von da geht es rüber zum Jobcenter. Dort übern Parkplatz zur Alten Gasanstalt. Und nun durch die Höfe der Lunitz (direkt unter der Straße Lunitz fließt die Gleichnahmige parallel zur Ponte). Auf dem Parkplatz vom Tuchmacher (neben dem Jesusbäcker) endet die Ponte auf meinem Bildausschnitt. Dort finden auch regelmäßig die Besichtigungen des Pontekanals durch die Stadtwerke statt. Zum Glück ist dieser Bereich mehr mit Industie, Wirtschaft und Handel bebaut und nicht mit Wohnhäusern, in denen jemand schlafen will…
Auch hierzu gibt es spannende Kommentare:
„sehr interessant! Ich dachte die ganze Zeit das die Ponte direkt unter der Chr.-Lüders-Straße entlang fließt, da die Straße in Höhe Nr. 44 gewölbt ist! Aber erklärt vielleicht das die feuchten Keller in dem Haus oder es lag an diesem Dauerregen von August 2002 der die gesamte Straße in dieser Zeit überflutet hatte.. Danke dir für das schöne Zeitdokument „
„Als das Waggonbaugebäude an der Lüdersstr. gebaut wurde ist ein Baufahrzeug im Pontekanal eingebrochen und wurde nach ein paar Tagen mit einem sowjetischen Panzer oder SPW herausgezogen. Ich wohnte damals in der Pontestr.“
Areal von Heinzelstraße, Holteistraße und Parkeisenbahn.
Nun sind wir in einer ganz anderen Ecke von Görlitz. Entlang der Zittauer Straße. Die Goethestraße geht ab. Brauerei und Schellergrund sind da. Die Parkeisenbahn dreht ihre Runden. Die Villen säumen Holtei und Heinzelstraße.
Das war bisschen anders gedacht 1867.
Die Zittauer Straße heißt noch „Chaussee“. Die Goethestraße ist bisher nur eine Idee (1.) und soll sich auch nach Westen fortsetzen. An eine Brauerei ist noch nicht zu denken. Da steht noch das Pulverhaus. Folglich denkt auch noch niemand an den Schellergrund, denn beides gehört zu sammen. Ganz wichtig: Die Bahnstrecke nach Zittau fehlt noch! Und DESWEGEN hat man noch die kühne Idee, ein Straßennetz mit einem schönen großen Platz (A.) zu errichten. Die künftige Goethestraße soll mit der Chaussee nach Zittau das „Gleisdreieck“ bilden, was wir heute wirklich haben. Auch die Reuterstraße ist schon angedacht. Und wir haben ein Bellevue, das heißt übersetzt „Schöne Aussicht“. Bis die Parkeisenbahn gebaut wird, dauert es noch über 100 Jahre.
Der Berggarten ist noch eine Maulbeerbaum-Plantage *oberlecker. Die Weinlache hat noch kein Volksbad vorgelagert und deswegen einen direkten Wasserzufluss. In die Neiße geht – wie eh und je – das Rothwasser direkt bei der Militärischen Schwimmanstalt.
Die Zehn geplanten Plätze der Südstadt
Da machen wir doch mal Abrechnung, was vom Plan 1867 umgesetzt wurde.
A: Platz zwischen Holtei- und Heinzelstraße? NEIN! Die „Wendeschleife“ in der Martin-Opitz-Straße gilt nicht wirklich.
B: Das Roundabout Jakobstunnel/Sattigstraße mit Bunker und Verkehrsgarten? – YES!
C: Der Sechsstädteplatz? – YES!
D: Ein Platz zwischen Gerhard-Hauptmann-Straße und Reuterstraße? Nope!
E: Ein Platz am Wasserturm Sattigstraße? Nix wars gewesen. Hat sich „Im Bogen“ dazwischen gemogelt.
F: Ein Platz am Ende der Melanchthonstraße auf die Reichertstraße? YES, wobei „schön“ anders ist.
G: Büchtemannstraße am Büchtemannkiosk? YES!!! – Und an dieser Stelle ein Pluspunkt für den August-Bebel-Platz, der 1867 gar nicht vorgesehen war.
H: Ein großer Platz hinter der Melanchthonschule. Jein! Da ist zwar ein „Grün“, aber von einem schönen Platz sind wir weit entfernt.‘
(I: Kennt die Karte nicht)
J: Ein Platz hinterm Brautwiesentunnel an der Lutherstraße? Nope!
K: (Nicht in meinem Kartenausschnitt: Ein Platz am Ende der Reichertstraße, wo sie auf die Reichenbacher Straße trifft? YES!)
Das macht in Summe: 5x Ja, 4x Nein und ein Ding mit Fragezeichen. Dafür ein zuätzlicher Platz und mächtig gestalterisches Potenzial nach oben. Es gilt wie immer: „1. Kommt es anders und 2. als man denkt.“
Das macht in Summe: 5x Ja, 4x Nein und ein Ding mit Fragezeichen. Dafür ein zuätzlicher Platz und mächtig gestalterisches Potenzial nach oben. Es gilt wie immer: „1. Kommt es anders und 2. als man denkt.“
Tierpark – Goethestraße – Brauerei
Wir kommen zu echter Landschaftsgestaltung. Benanntes Areal war mal ein Tal mit zwei Flüssen. Wer heute ein kleines bisschen aufmerksam ist, stellt fest, der Ernst-Müller-Weg auf der „Rückseite“ vom Tierpark ist ein hoher Damm. Und die Goethestraße ebenso. Natürlich auch die Zugstrecke nach Zittau.
Die Geschichte des Tierparks beginnt erst 1957. Knapp 100 Jahre nach unserer historischen Karte. Zuletzt besaß Herr Raupach hier einen Park und gab das Areal an die Stadt Görlitz ab zum Bau eines Tierparks. Im Tierpark kennen wir den Teich, der natürlich von irgendeinem Fluss gefüllt werden musste.
Uns müssten mal die Gartenspartenbesitzer des „Renatenaue e.V.“, ob sie Wasser haben? Oder Anwohner der Goethestraße, ob sie schlecht schlafen.
Nun wird auch nochmal ganz anders klar, wieso die Brauerei mit der dritten Kelleretage begonnen wurde zu bauen und man dann alles drum herum aufschütten konnte. Und wieso der Schellergrund bis heute so ein tiefes Loch hat. (Vergleiche dazu hier). Und dann gibt es auch unterhalb der Brauerei eine Kanalöffnung, aus dem vermutlich der Fluss kommt, der ab Tierpark in den Untergrund verbannt wurde. Toll!
Ich danke allen herzlich für ihr Interesse in dieser Woche. Ich würde die Serie erstmal beenden, denn das wird ermüdend so oft hintereinander. Es gibt natürlich noch viel mehr zu entdecken an nicht gebauten Straßen, alten Wasserläufen und Plätzen. Schön, dass ich euren Blick zu markanten Punkten führen durfte. Den Link zur Karte hat es hier.
Diese Serie wird vielleicht noch fortgesetzt…
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